Wenn nicht wir, wer dann?


Text als Hörfassung: ▶️ Wenn nicht wir, wer dann?.mp3 (7 min 47 s)

Um mich herum geben Menschen auf. Projekte werden beendet oder auf Eis gelegt, Menschen treten aus ihren Parteien aus, Freund·innen überlegen die Stadt und sogar das Bundesland zu verlassen und zwischenmenschliche Beziehungen werden beendet.

Dieser Text ist absolut anekdotisch und beschreibt nur meine Beobachtungen und Meinungen, aber das Folgende liegt mir doch schon sehr auf dem Herzen:

Wenn nicht wir, wer dann? Wer soll den Karren sonst aus dem Dreck ziehen?

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Hoffnungslosigkeit

Das dominierende Gesprächsthema in diesem Sommer und Herbst waren für mich die Wahlen im nächsen Jahr. Im Piraten-Kontext ging es natürlich viel um die Europa- und Kommunalwahl im Juni, aber das, wovor viele Menschen wirklich Angst haben, sind die Landtagswahlen. In Thüringen, Brandenburg und Sachsen wird Anfang September ein neuer Landtag gewählt werden. Und das mit einer politischen Stimmung im Hintergrund, in der Klimaziele oft einfach ignoriert werden, marginalisierte Gruppen gegeneinander aufgehetzt werden, kaum ein Mensch noch über trans Rechte und die vergessenen Gesetzesneuerungen spricht, unsägliche Migrationsdebatten geführt werden, wir immer noch über Vorratsdatenspeicherung und Überwachung diskutieren und die AfD immer salonfähiger wird.

Die Lage ist alles in allem mehr als trüb. Wir haben als Menschheit die letzten Jahrzehnte absolut verkackt. Und auch wenn es in den letzten Jahren an vielen Ecken und Enden der Gesellschaft Proteste gab, sehe ich diese in den letzten Jahren und Monaten um mich herum wieder in sich zusammen fallen.

Ausweg in die Mittelmäßigkeit

Die einen, wollen zwar noch irgendwie weiter kämpfen, hinterfragen aber ihre Wahl der Mittel. War ich zu radikal? Habe ich zu viel gefordert? War ich zu unbequem und komme ich nicht weiter, wenn ich weniger anecke?

Und kein Wunder, die Art, wie medial mit Protesten der letzten Generation und oft zuvor auch mit Ende Gelände und anderen Besetzungsgruppen umgegangen wurde, legt diese Schlüsse sehr nahe. Wenn sich mehr über den Protest als über das thematisierte Problem aufgeregt wird, was macht das mit den Menschen, die sich zu Protest gezwungen gefühlt haben? Wenn jede nur halbwegs kreative, neue oder konsequente Idee ins Lächerliche gezogen wird, statt sich mit den eigentlichen Forderungen auseinander zu setzen, wer will dann noch kreativ, neu oder konsequent sein?

In letzter Zeit ist etwas passiert, mit dem ich nie gerechnet hätte. Die Menschen verlassen ihre vorherigen Gruppen und um mich herum steigen plötzlich die Eintritte in die SPD! Der Ausweg in das "Bürgertum", in die Partei des unsichtbaren Kanzlers. Eine allgemeine Hinwendung zur Mittelmäßigkeit, zu den gemäßigten Forderungen, unabhängig vom Alter und wie sehr vorher das Feuer für Veränderung in den Menschen gebrannt hat. Eine Anpassung an die Umstände, statt die Umstände weiter verändern zu wollen.

Doch große Ideen kamen bisher nur selten aus dem Mittelmaß.

Weglaufen

Die anderen haben Angst. Und ich kann es ihnen nicht verdenken. Es ist ein großes Privileg, dass meine Angst nicht so groß ist. Nicht so groß sein muss. Ich bin in Deutschland geboren, nicht krank oder behindert, ich bin nicht alt und ich bin die Art queer, die nicht auffällt. Das Bisschen politische Oposition und dann noch in einer Kleinpartei.

Eine AfD in der Regierung würde mein Leben nicht direkt bedrohen. Sie würde es erschweren, ihre unmenschliche Politik würde mein Herz bluten lassen, aber ich müsste keine Angst haben, dass mir meine Lebensgrundlage genommen oder mein Existenzrecht abgesprochen wird. Und ja, das sind die berechtigten Sorgen, die sich viele gerade machen, wenn sie darüber nachdenken, was passieren würde, wenn die AfD zukünftig regierte.

Ich kann es euch nicht verdenken, wenn ihr geht. Auch wenn es einsamer ohne euch wird.

Resignation

Bei vielen setzt nach Jahre langen Kämpfen gegen Windmühlen auch dauerhafte Erschöpfung ein. Der menschliche Blick neigt dazu, sich auf die Niederlagen und Kritik zu wenden, nicht auf die Erfolge. Und die Welt dreht sich einfach viel zu schnell, immer steht bereits die nächste Katastrophe vor der Tür. Wer hat da schon Zeit, aus dem Hamsterrad zu steigen, durchzuatmen und mal wirklich zu sortieren, was in letzter Zeit gut lief und was nicht? Oder sich gar einfach nur über die kleinen Erfolge zu freuen? Vor allem, wenn um eins herum die Menschen gehen und du plötzlich allein da stehst?

Resignation ist menschlich und manchmal ist es sogar gut, Dinge einfach zu beenden. Wichtig ist jedoch, was nach dem Ende kommt. Ein neues Projekt, der Abschied aus dem Aktivismus und der Politik mit anderen Zielen oder ein großes Loch?

Wenn da nichts ist, als ein Loch, sucht euch bitte Hilfe! Sprecht mit Menschen, denen ihr vertraut oder nutzt professionelle Hilfsangebote.

Widerstand

Wenn ich Menschen von der politischen Szene Dresdens erzähle, sage ich oft: "Es ist schön hier im Widerstand", und ernte dafür häufig ein Lächeln. Dabei meine ich diesen Satz sehr ernst.

Diese Stadt fühlt sich sehr oft wie ein Katalysator für alles an, was schlecht ist. Aber es gibt auch Menschen, die sich dafür einsetzen, dass eben doch nicht alles zu Grunde geht. Die weiter machen und ich bin unendlich dankbar dafür. So gibt es überall Menschen und Gruppen, die noch weiter machen oder überhaupt damit anfangen wollen, die Welt ein klein wenig besser zu machen. Und das geht am besten nicht allein.

Diese Aufforderung bemüßige ich so oft, aber es ist einfach wahr: Bildet Banden! Es ist einfach unglaublich wertvoll, eine Gruppe zu haben, auch wenn das Kompromisse und Diskussionen bedeutet. Zusammen sind wir stark, allein sind wir einfach nur allein.

In Gruppen können wir aufeinander aufpassen, uns für einander Zeit nehmen, auch wenn das im allgemeinen Chaos manchmal schwer fällt. Und alle die mich nur ein Bisschen kennen, wissen, wie schwer es auch mir fällt, mich daran zu halten, sich einfach Zeit zu nehmen und nicht 100 Baustellen auf einmal zu bearbeiten.

In Gruppen können wir uns gegenseitig Kraft geben, wo es geht. Können fragen, wo die Menschen sind, die lange nicht mehr da waren. Wir können im Kleinen versuchen jetzt schon so zu leben, wie wir uns die Welt wünschen. Wir können uns aneinander fest halten, um weiter zu machen.

Ich will brennen und es gibt nichts zu verlieren

Das war jetzt alles ziemlich meta, aber manchmal braucht es auch den Blick von weiter weg.

Es gibt so viele Gründe, aufzugeben oder zu gehen. Aber es gibt mindestens genau so viele Gründe, weiter zu machen. Egal ob in einer Partei, aktivistischen Gruppe, im Freund·innenkreis, die Hoffnung nicht aufzugeben. Es kann sich nur etwas zum Guten verändern, wenn sich irgendwer dafür einsetzt und je mehr wir sind, desto besser.

Und am Ende bleibt die Frage: Wenn nicht wir, wer dann?

Um es mit den Worten von Früchte des Zorns abzuschließen:

"Ja ich will leben, das heißt auch kämpfen

Gegen das Sterben, und das ist auch Teil von mir

Ja ich will leben, lebendig kämpfen

Ja ich will brennen, zusammen mit dir"

07.12.2023